Mittwoch, 24. Oktober 2012
fortunate women....
Glückskeks wußte nicht genau, warum, aber sie weinte ein kleines bißchen. Die Hauptstadtkatze war gerade irgendwo in der Wohnung verschwunden, wie Katzen es manchmal tun, wie wenn ein Teil der Wohnung in irgendeinem Paralleluniversum wäre, wo es eine exponentielle Anzahl von Katzenverstecken in jeder beliebigen Wohnung gibt. Glückskeks sprach trotzdem mit der Hauptstadtkatze, wie wenn sie da wäre, denn irgendwo in einem der Paralleluniversen saß die Hauptstadtkatze bestimmt gerade zu ihren Füßen, oder lag empathisch neben ihr, vielleicht auf einem Balkon an einem lauen Sommerabend, wo Grillen zu hören waren und Züge von fern, wie in Kansas. „Ach Hauptstadtkatze, da gäbe es so viel zu erzählen. Der Krieg und was er gemacht hat mit den Frauen in meiner Familie. Ich würde gerne noch viel mehr darüber erzählen können, aber ich war jung und brauchte die Zeit, und habe viel zu selten zugehört. Und manchmal hätte ich zugehört, wenn etwas geredet worden wäre. Aber vieles war zwischen den Zeilen zu hören. Und vieles, was nicht zu hören war, sprach lauter von diesen Zeiten. Die Urgroßoma… du weißt, Hauptstadtkatze, die Frauen und sogar auch einige Männer in meiner Familie haben so etwas wie sieben Leben und leben lange, deshalb habe ich sie noch gut gekannt. Bis ich zwanzig war, konnte sie erzählen, wenn ich nur noch lebe, bis Glückskeks in die Schule kommt.. wenn ich nur noch lebe, bis Glückskeks zur Kommunion geht.. wenn ich nur noch lebe, bis Glückskeks aus der Schule kommt.. und sie lebte und lebte… und ihr Leben war so lang, daß sie den Jackpot hatte, sie hatte nicht einen, sondern zwei Kriege in ihrem Leben. Aber sie erzählte davon nicht viel. Die Menschen erschaffen sich ihre eigene Realität, Hauptstadtkatze. In dieser Realität war viel wichtiger, und erinnernswerter, daß ihre jüngere Schwester immer mehr geliebt wurde als sie. Und daß sie eines Tages so verblüfft war beim Anblick eines Supermarkt-Parkplatzes, daß sie mir erzählte, sie hätte ja nicht gewußt, daß es schon so viele Autos gibt auf dieser Welt. Die Oma… die sich ganz ohne Internet und Globetrotting einen jungen Mann von ziemlich weit weg angelte, und ihn mit ihren Briefen so verzauberte, daß er einen ganzen Krieg lang nur an sie dachte, sie heiratete und nach dem Krieg nichts eiligeres zu tun hatte, als zu ihr zurückzukommen und alles hinter sich zu lassen, die Familie und die alte kleine Welt, die nun hinter einem immer eiserner werdenden Vorhang lag. Die eines Nachts träumte und aufwachte und genau wußte, heute kommt er aus diesem Krieg zurück. Die Männer in der Familie.. der verzauberte junge Mann, der einen Krieg lang Heimweh hatte, und eines Nachts in seiner alten Heimatstadt war, und eines Morgens aufwachte und aus seinem Versteck kam, am 14. Februar, und durch seine Stadt lief. Er erzählte mir davon nicht viel, nur daß er lief und lief, und sich verlief, obwohl er die Stadt gekannt hatte wie seine Westentasche, aber nach dieser Nacht erkannte er nichts mehr, und irrte durch die Stadt, die so zerstört war, daß alle markanten Punkte, alle Wegweiser, alle Hinweise in Schutt und Asche lagen. Die Menschen erschaffen sich ihre eigene Realität, vielleicht lebt die Stadt, wie sie war, ja irgendwo in ihm weiter. Und auch andere Männer aus anderen Familien.. der Vater, der mit mir Bilder durchsah, aus einem fernen Land in Asien, und der von fünf jungen Männern auf einem Bild vier benannte, und als ich nach dem fünften fragte, sagte er ganz leise und nebenbei, oh das war mein bester Freund, aber der ist tot, der stand neben mir und wurde von einer Bombe getroffen und ist verbrannt. Der in vielen Nächten träumte, er müsse sich immer noch verteidigen, seine Frau erzählte es mir, sie lachte und sagte, manchmal weckt er mich auf und hat die Hände um meinen Hals und denkt, ich sei der Feind und er müsse mich ersticken, und dabei weiß ich doch, daß er mir nie etwas tun würde. Und er sagte nur, so sicher sei er sich da nicht. Aber was sollte er tun, er legte sich jeden Abend neben sie schlafen, weil sie es so wollte. Die Menschen erschaffen sich ihre eigene Realität. Sie reden nicht täglich über solche Dinge, Hauptstadtkatze. Manchmal passiert irgendeine Kleinigkeit und der Schutzpanzer fällt ab für einen Augenblick, und dann merkt man ihnen an, daß diese Dinge sie verändert haben, und man fragte sich, ob diese Dinge viel verändert haben oder doch nicht, und was für Menschen aus ihnen geworden wären, wenn diese Dinge nicht passiert wären. Und was für Menschen aus ihnen geworden sind, trotz oder wegen dieser Dinge. Manchmal träumen sie von diesen Dingen. Aber meistens erzählen sie nicht einmal diese Träume.

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